
Im Falschfarbenmodell zeigt die Simulation Schwachstellen in der Konstruktion. (Bei Klick hochauflösendes Bild zum Download)
Konstruieren ist ein anspruchsvoller Job. Ausgangspunkt ist eine Idee, aber das Endprodukt muss nicht nur die Funktionen und Anforderungen im Betrieb erfüllen, sondern auch wirtschaftlich herstellbar sein. Gesetzliche Auflagen in Bezug auf die Ökologie, Produkthaftung und Sicherheit kommen hinzu und verwandeln die Produktentwicklung in eine überaus komplexe Angelegenheit. Fragen nach der zum Produzieren und Entsorgen erforderlichen Energie und zum Materialverbrauch werden immer relevanter. Im Arbeitsalltag von Berechnungsingenieuren und Konstrukteuren bedarf es deshalb Werkzeuge, welche minimalste Produktveränderungen quasi in Echtzeit, also interaktiv, simulieren und Auswirkungen strukturmechanischer Veränderungen auf einen Blick sichtbar machen.
2018 hat das Fraunhofer IGD mit RISTRA (Rapid Interactive Structural Analysis) eine neue interaktive Simulationslösung vorgestellt. Die neue Rechentechnologie besticht durch eine enorme Zeitersparnis, weil entscheidende Berechnungen von der CPU auf die Grafikkarte verlagert werden. Dahinter steht die Vision, die computergestützte Konstruktion eines Bauteils und die Simulation dessen Stabilität parallel in einem Arbeitsgang durchzuführen. Bis dato werden für den iterativen Prozess aus geometrischer Modellierung, Initialisierung, Simulation und Analyse der Ergebnisse unterschiedliche computergestützte Werkzeuge benötigt, meist auf verschiedenen Rechnern.
Die meiste Zeit beansprucht bislang die Simulation selbst. Je nach benutztem Rechnersystem und Komplexität der Simulation kann das einige Minuten oder gar viele Stunden oder Tage dauern. Liegen dann (endlich) die Simulationsergebnisse vor, können Änderungen am Design und an den Belastungsparametern vorgenommen werden. Oft lassen sich Konstrukteure und Berechnungsingenieure dabei von ihrer Erfahrung leiten, sie »probieren«, wie sich eine Veränderung der Materialstärke auf die Stabilität des Bauteils auswirkt. Und der Kreislauf beginnt von vorn: Eine neue Netzstruktur als Input für den Simulator ist zu berechnen, damit der nächste Simulationslauf beginnen kann. Und das kann dauern … Das Ziel wird häufig nicht erreicht, eine wirklich in allen Belangen optimierte Konstruktion zu erhalten: Entweder wird die Zeit knapp oder das Budget.
RISTRA ermöglicht durch eine enorme Zeitersparnis einen direkten, intuitiven Arbeitsstil. Dieser führt naturgemäß zu besseren Ergebnissen, nicht nur bezüglich der benötigten Entwicklungszeit, sondern auch der Qualität des Designs. Der Kern der neuen Technologie ist ein effizienter Gleichungslöser für Strukturmechanik, der das mechanische Verhalten berechnet. Etliche Millionen Gleichungen bilden je nach Komplexität der Konstruktion keine Ausnahme. Bei der mechanischen Simulation wird berechnet, wie sich die vorgegebenen Lastfälle auf die Struktur des Bauteils auswirken. Die Software nutzt dazu die massiv-parallelen Berechnungspotenziale handelsüblicher kostengünstiger Grafikkarten. Während eine CPU heutzutage vier bis acht Kerne aufweist, stehen aktuell auf der Grafikkarte bis zu 5000 Kerne zur Verfügung. Im Gegensatz zu Standardsimulationen ist die Rechenzeit so kurz, dass die Berechnungsingenieure oder Konstrukteure die Ergebnisse nahezu in Echtzeit auf ihren Bildschirmen sehen. Ein Modell mit mehr als 1,3 Millionen finiten Elementen kann RISTRA innerhalb von 1,83 Sekunden simulieren – mehr als 80-mal schneller als eine kommerzielle Simulationssoftware, die dafür in einem Vergleichstest 150 Sekunden benötigte. Ein Falschfarbenmodell bereitet die Ergebnisse graphisch auf und zeigt auf einen Blick die Spannungen im Material und die Verformungen. Verbesserungspotenziale erkennt der Berechnungsingenieur sofort und kann im gleichen Atemzug die Konstruktion optimieren – viele Iterationen auf dem Weg zum Optimum sind also kein Problem.
Als potenzielle Lizenznehmer hat das Fraunhofer IGD das Konstruktionspersonal großer Unternehmen und die Hersteller einschlägiger Software im Blick. Eine erste Partnerschaft besteht bereits mit der Meshparts GmbH. Geschäftsführer Vertrieb, Timo Ziegler, zu seiner Entscheidung, RISTRA zu lizensieren: »Der Solving-Ansatz des Fraunhofer IGD überzeugt durch ein extrem schnelles Lösungsverhalten und die Präzision der Ergebnisse. Wir sind begeistert von den Möglichkeiten, die sich unseren Anwendern mit der interaktiven Simulation bieten. Das IGD wird uns als Partner zur Seite stehen, wenn es darum geht, die neue Lösung benutzerfreundlich zu implementieren. Wir sind stolz, dass wir die Ersten sind, die interaktive Simulation mit dieser Performance auf den Markt bringen.« Die Meshparts GmbH integriert RISTRA in ihr gleichnamiges Simulationsprogramm.
RISTRA unterstützt aktuell die folgenden strukturmechanischen Konzepte: geometrisch lineare Elastizität, linear isotrope und anisotrope Materialien sowie lineare, quadratische und kubische Ansatzfunktionen auf Tetraedern. Doch das Ende der Fahnenstange ist noch nicht in Sicht. Das Fraunhofer IGD arbeitet daran, die Rechenzeiten weiter zu reduzieren und möchte die Lösung hinsichtlich geometrisch nichtlinearer Elastizität und nichtlinearer Materialien erweitern.